Hans-Hinrich Sievers (Skulptur)
Aber was wäre das farbige Ensemble hier ohne den schwarzen Widerpart der Skulpturen aus Mooreiche von Hans-Hinrich Sievers! Allein schon das quasi erdgeschichtliche Alter des Materials, bis zu 10.000 Jahre alt! Von unglaublicher Härte! Das soll Sie jetzt aber nicht verleiten, die Touch-Probe zu machen, also Finger weg, ich habe es schon für Sie getan und Sie dürfen mir getrost Glauben schenken: es ist sehr hart und widerstandsfähig. Daraus etwas zu formen, braucht es in der Hauptsache Maschinen, Winkelschleifer, Sticheisen etc. Doch bevor Hans-Hinrich Sievers die Flex ansetzt, hat er schon eine Ahnung, eine Vision, was er aus einem Stück dieses altehrwürdigen fossilen Werkstoffs herausschneiden könnte. Es reizt ihn sehr, Figuratives der Mooreiche zu entlocken, aus einem Material etwas zu gestalten, das sich im Rohzustand als morbide Struktur, als knorriges Wurzelholz zeigt. Viel Rohzustand noch zeigt in diesem Sinne die Arbeit Die Klagenden, erst bei genauerem Hinsehen präpariert der Blick drei leidende Figuren heraus, wobei das schrundige Material in seiner Maserung entscheidend mitspricht.
Dabei ist Hans-Hinrich Sievers kein ausgebildeter Künstler bzw. Bildhauer, sondern berühmter, international renommierter Professor der Herzchirurgie, wie mein Hausarzt mir heute noch mal bestätigte, und er war von 1993 - 2018 Leiter der Herzklinik des UKSH in Lübeck. Seit kurzem im Ruhestand, doch immer noch auf Abruf für den OP, könnte man sich vorstellen, dass die einstige Freizeitbeschäftigung mit Skulpturen aus Mooreiche jetzt noch weiter ausgebaut wird, wie überhaupt das Künstlerische in seinem Leben. Er hat ja den Fehler begangen, uns bei der Vorbereitung der Ausstellung - digital auf seinem Handy - auch Bilder zu zeigen, die er gemalt hat. Nur deshalb habe ich mich jetzt erfrecht zu sagen, dass seine Hinwendung zur Kunst wohl noch wachsen könnte...
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Was Hans-Hinrich Sievers hier mit seinen zwischen 2005 und 2019 entstandenen Arbeiten aus schwarzbrauner Mooreiche alles herausgeholt hat, provoziert uns sicherlich zum Staunen. In der Tat tragen alle Skulpturen biomorphe Züge, das Menschlich-Figürliche ist mal mehr und mal weniger deutlich auszumachen, die abstrakte Form mal mehr mal weniger bestimmend. Gestalterisches Ziel ist jedenfalls, lebendige, an organisches Leben orientierte Formen zu erschaffen.
Dort, wo die rauhe Oberfläche und fossile Beschaffenheit des Materials stärker mitspricht, verstärkt sich auch der Gedanke im Werk in Richtung Archaik. Wichtig zu wissen ist es, dass Sievers allein durch die Verwendung/Bearbeitung dieses Materials ganz bewusst an die Anfangsgründe der zivilisatorischen Menschheitsgeschichte rühren will, an Zeiten, in denen noch natürliche Zustände zwischen Mensch und Natur walteten - im Vergleich zu unserer Gegenwart. Allein schon das Material bedeutet ein lauter Aufschrei, über die fortschreitenden Veränderungen der Evolution und den ausbeuterischen Umgang mit unseren Erdressourcen. Die sprechenden Titel seiner Arbeiten ziehen uns alle in diese Richtung: Balance II, ein waghalsiges Balancieren verschiedener Kräfte zwischen Aufstreben und Vergänglichkeit, Eternity I und Eternity II, eine Hommage an die beiden seit Adam und Eva gegensätzlichen Prinzipien des Weiblichen und des Männlichen, ohne die es keine Entwicklung gegeben hätte; doch wie weit sind wir damit gekommen? Die erschütternde Antwort geben besonders deutlich die Arbeiten Apollucalypse I [Fensterbank] und Apollucalypse II [links vom Eingang], die emporflammende Skulptur. Das Wortungeheuer - extra so dämonisch mit implantierter Weltuntergangsstimmung - setzt sich zusammen aus Apocalypse und Pollution, der englischen Vokabel für Umweltverschmutzung. Professor Sievers Herzensangelegenheit als leidenschaftlicher Holzbildhauer, der in den schönen Künsten tatsächlich mehr schafft als nur zu dilettieren, das ist die Mahnwache für den Umweltschutz. Er ist sozusagen die Greta Thunberg unter den Naturwissenschaftlern und Medizinern hierzulande und er findet in seinem Buch mit den elend schönen Werk-Fotos von Bernd Perlbach für sein Anliegen ein entsprechend aufrüttelndes Vokabular von geradezu expressionistischer Aussagekraft. Sie können dieses Buch hier käuflich erwerben. Sie können dieses reich bebilderte Buch hier käuflich erwerben, und ich kann Ihnen auch sagen, was es kostet: 30 €. Welche Preise die Skulpturen haben, kann ich dagegen nicht sagen. Nur so viel: Sie haben ihren Preis, denn Herr Sievers hat lange Zeit daran gearbeitet, ein halbes Jahr und noch länger.
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Foto: Bernd Perlbach |
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Etliche Arbeiten von Hans-Hinrich Sievers sind an der Oberfläche seidig glänzend poliert, von formaler Eleganz und Ästhetik. Indessen richten sie eine knallharte, tiefgehende Botschaft an alle Menschen bzw. an die Regierenden unserer Erde, endlich aufzuwachen und sich entschiedener für den Schutz unseres Planeten einzusetzen!
In den beiden 2019 geschaffenen Skulpturen Stop und Despair steigert sich noch einmal der Schmerzensschrei über den Zustand der Welt! Natürlich kann ich es mir nicht verkneifen zu sagen, dass die Arbeit Despair formale Anleihen bei Ernst Barlach und Käthe Kollwitz macht, besonders bei der stark vergrößerten Bronze-Pietà der Kollwitz in Schinkels Neuer Wache in Berlin, die - wie bekannt - seit 1993 dort als Mahnmal zum Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft steht. Der deutsche Expressionismus hat ja im Keim das Aufrührerische und Revolutionäre und ist von daher auch heute noch die Quelle für form- und wortstarke Mahnungen und Aufrufe. Frei nach der Parole: "Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut" - "Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut" wie Zeilen aus dem bekanntesten expressionistischen Gedicht "Weltende" von Jakob van Hoddis lauten.
[Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut.
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei.
Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
an Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken. 1911]
Anfang und Ende oder vielleicht auch: der Anfang vom Ende, das ist auch Thema der ganz großen, von Lichtbahnen durchströmten Skulptur Die Goldene mit verschiedenen Ansichtsseiten. Ich kann Sie, liebes Publikum, nur auffordern, sich intensiv damit auseinanderzusetzen!
Text: Dr. Bärbel Manitz, aus der Eröffnungsrede zu "Wege, die sich kreuzen", 05.04.2019
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